2. Marx-Herbstschule:
2. Band des Kapital
(21. – 23.11. 2009 Berlin)

Am Wochenende vom 20. – 22. November 2009 fand in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin die 2. Marx-Herbstschule statt. Drei Tage lang erarbeiteten sich rund 70 TeilnehmerInnen in Parallel-Arbeitsgruppen ein Verständnis vom 2. Band des Kapitals von Karl Marx. Die Marx-Herbstschule ist eine Ergänzung der in den letzten Jahren wieder verstärkt auftretenden Kapitallese-Kreise, sie ist insbesondere für TeamerInnen der Lesekreise eine hilfreiche Vertiefungsmöglichkeit, sowie bundesweite Vernetzungsplattform. Das Projekt wird von verschiedenen Kooperationspartnern finanziell oder ideell oder auch beides zugleich getragen: Die Marx-Gesellschaft e.V., der Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ihre Berliner Landesstiftung, Helle Panke, außerdem die Gruppe TOP Berlin „Umsganze“-Bündnis) organisieren und führen die jährlichen Wochenend-Treffen durch. Die TeamerInnen bei dieser Herbstschule waren: Antonella Muzzupappa, Valeria Bruschi, Nadja Rakowitz, Thomas Gehrig, Hans-Joachim Blank, Rolf Hecker, Christian Schmidt, Ingo Stützle, Christian Frings und Thomas Klauck. Bei der ersten Marx-Herbstschule in 2008 wurden im übrigen die „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“ gelesen, sie sind das sog. sechste Kapitel des ersten Bandes. Es wurde von Marx nicht ins Kapital aufgenommen und existierte daher nur in längst vergriffenen Einzelausgaben. Die Marx-Herbstschule war schließlich Anlass einer Neuausgabe der Resultate.1

Eine Besonderheit der Marx-Herbstschule ist der Charakter des „Gesamtkunstwerks“: Knapp drei Tage lang wird in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung intensiv in Kleingruppen am Text diskutiert, am Samstagabend gibt es ein öffentliches Podium mit einer prominenten Person oder aber einem Diskussionspodium zu einem naheliegenden Thema und anschließender Party. Die Herbstschulen sind auch offen für Interessierte, die sich noch nicht mit Marx näher befasst haben, die Kleingruppen werden entsprechend nach den verschiedenen Vorkenntnissen eingeteilt.

Für Samstagabend war Antonio Negri eingeladen, um im Rahmen der Marx-Herbstschule einen Vortrag zu halten. Negri, einer der führenden und streitbarsten Theoretiker und Vordenker der italienischen Linken im (Post)Operaismus, sprach darüber, wie sich in den 1960er Jahren der Bruch mit der traditionellen Kapitalismuskritik in Italien und Frankreich vollzog und wie das Gespenst zurückkehrte, das Gespenst eines anderen, kritischen und nie zu vollendenden Marxismus. Knapp 400 Besucher drängten sich auf den Zuschauerbänken des Praters, der zweiten Spielstätte der Berliner Volksbühne, weitere Dutzende standen oder saßen im Foyer auf dem Boden und lauschten per Kopfhörer der deutschen Simultanübersetzung. In seinem einstündigen Vortrag bezeichnete Negri den Operaismus als Versuch, die italienische Arbeiterbewegung radikal zu erneuern. Das Ziel dieser Erneuerung sei es gewesen, eine geeignete politische Organisationsform zu finden, um sich die Produktion anzueignen, dabei sollte der bürgerliche Staat durch Formen der Selbstverwaltung ersetzt werden. Negri sprach auch über die aktuelle Wirtschaftskrise, er forderte “Sowjets der Banken” um das Finanzkapital zu kontrollieren, bzw. um ein gesellschaftliches Mitspracherecht bei der Produktion von Reichtum zu erhalten (der vollständige Vortrag steht als Audio-Datei im Netz unter: http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=negri). Negri zeigte sich am Rande der Veranstaltung beeindruckt von der Marx-Renaissance, der er in Berlin begegnete und bekundete Interesse, diesen „Return to Marx“ nach Italien und Frankreich zu exportieren.

Als Textgrundlage dienten auf der 2. Herbstschule der erst letztes Jahr erschienene MEGA-Band, in welchem die Manuskripte zum zweiten Band erstmals im Original zu lesen sind. Dies ist vor allem aufgrund der Kooperation mit dem MEGA-Verein möglich und verleiht der Auseinandersetzung mit dem zweiten Band einen besonderen Reiz. Es war Engels, der nach dem Tod von Marx den zweiten Band, der erstmals 1885 erschien, editierte. Zwar war diese Arbeit notwendig, damit der zweite und dritte Band erscheinen konnte, dennoch war es ein durchaus schwieriges und nicht ganz unproblematisches Vorhaben. Schließlich schrieb selbst Marx am 13. Februar 1866 an Engels, dass nun zwar ein riesiger Entwurf vorläge, der allerdings alles andere als herausgebbar sei, “selbst nicht für Dich”. Dieses Problem wurde anhand der Manuskripte zum dritten Band bereits oft diskutiert, jedoch selten hinsichtlich des zweiten Bandes. Auch wenn die Aneignung der inhaltlichen Argumentation im zweiten Band im Vordergrund der Marx-Herbstschule stand, so wurden die Stellen der Originalmanuskripte doch auch immer wieder mit Engels Aufbereitung, wie sie in MEW 24 vorliegen, verglichen. Zum Abschluss der Herbstschule am Sonntag brachte Rolf Hecker in einem Vortrag Licht in die Edition, die unterschiedlichen Manuskripte sowie deren Bearbeitung und die Wirkung des zweiten Bandes unmittelbar nach seinem erscheinen.

Die Diskussion des Textes konzentrierte sich auf den ersten Abschnitt (Metamorphosen des Kapitals) und den dritten Abschnitt (Die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals) des zweiten Bandes. Die „Metamorphosen des Kapitals“, das sind die unterschiedlichen Formen, die das Kapital in der Zirkulation annimmt, wie Geldkapital, produktives Kapital, Warenkapital. Sie wurden in der Diskussion mit dem Anfang des ersten Bandes verglichen. Marx steht nämlich wie im ersten Band auch vor dem Problem, dass er eine zirkuläre Struktur darstellen muss. Die verschiedenen Formen, die das Kapital annimmt, bedingen sich gegenseitig, sind in einander verschlungen und es stellt sich die Frage, welche Form nun zu erst dargestellt werden soll. Das ist allerdings keine willkürliche Setzung bei Marx, sondern ebenso wie beim ersten Band Resultat wissenschaftlicher Forschung und darauf folgender Darstellung. Im ersten Band zeigt sich, dass sich Waren immer nur über das Geld als Werte aufeinander beziehen können, die Warenzirkulation also gar nicht ohne das Geld existieren kann. Da Marx die konstitutive Relevanz des Geldes für die Warenzirkulation bereits im ersten Band deutlich gemacht hat, ist es plausibel, dass er im zweiten Band mit dem Geldkapital beginnt. Später im Text folgt ein weiterer Grund: Die Produktion bedarf immer eines Geldvorschusses. Die Form des produktiven Kapitals folgt schließlich als Kritik an der Form 1, der des Geldkapitals, bzw. seiner scheinbaren Selbstständigkeit. Es wird deutlich, dass das produktive Kapital das vermittelnde Glied der G-W-G’ Beziehung ist. Das produktive Kapital stellt als Verwertungsprozess die oberflächliche Beziehung zwischen Ware und Geld überhaupt erst auf Dauer. Das Warenkapital steht schließlich am Ende der Darstellung der Zirkulationsformen. Es verweist auf den dritten Abschnitt des Kapitals: W’ ist nicht einfach Kapitalvorschuss, sondern schon Resultat der Verwertung – im Unterschied zu den zuvor dargestellten Kapitalformen. Damit ist es aber auch Voraussetzung für die weitere Verwertung des Kapitals. Die Elemente des Warenkapitals müssen die Bedingungen für die weitere Produktion garantieren, d.h. stofflich die Waren und Produktionsmittel zur Verfügung stellen, dass die Produktion wieder von Vorne beginnen kann. Da die kapitalistische Produktion jedoch anarchisch und unkoordiniert stattfindet, sind diese Bedingungen nicht notwendigerweise gegeben. Wie die Bedingungen aussehen müssen, untersucht Marx im dritten Abschnitt des zweiten Bandes.

Ein weiterer Vortrag, von Ingo Stützle, beschäftigte sich mit der Diskussion des dritten Abschnitts des zweiten Bandes, den sogenannten Reproduktionsschemata und Rosa Luxemburgs Interpretation. Auch ging er auf die Debatte ein, die sich von Otto Bauer über Lenin bis zu Negri durchzieht. In den Reproduktionsschemata thematisiert Marx die Frage, wie in einem anarchischen, unkoordinierten Markt die Herstellung von Produktionsgütern (Abteilung I) und Konsumtionsgütern (Abteilung II) in der richtigen Proportion von statten gehen kann. Marx Ausführungen haben historisch zu Debatten darüber geführt, inwiefern es überhaupt einen krisenfreien Kapitalismus geben kann. Rosa Luxemburg, die für diese Frage bis heute intensiv diskutiert wird, geht davon aus, dass im Anschluss an die Schemata gezeigt werden könne, dass der Kapitalismus nicht nur krisenhaft, sondern immer auch expansiv sein müsse. Kapitalismus sei deshalb immer Imperialismus.

Für die Diskussion von Luxemburgs These wurde ein Detail fruchtbar gemacht, das erst die Lektüre der Originalmanuskripte ergab. Marx benannte erst im letzten, achten Manuskript zum zweiten Band (entstanden zwischen Februar 1877 und Frühjahr 1881) die beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion so wie sie Luxemburg kennen lernte. In den vorherigen Manuskripten (entstanden Anfang 1868 und Mitte 1880) entsprach die erste Abteilung der Produktion der Konsumtionsmittel, und die zweite Abteilung der Industrie der Produktionsmittel. Engels übernahm diese Umkehrung in seine bis heute gelesene Edition. Marx hat den Schritt der Umbenennung nicht weiter begründet. Nicht nur Rosa Luxemburg interpretierte diese Reihenfolge der Abteilungen als Hierarchie und ging davon aus, dass die erste Abteilung die Austauschbeziehungen zwischen den Abteilungen bestimme. Schließlich, so Luxemburg, beginne Marx in seinen Beispielrechnungen ja auch immer mit der ersten Abteilung. Die zweite müsse sich den quantitativen Vorgaben der ersten dann nur anpassen. Im Sozialismus, so Luxemburg kehre sich das Dominanzverhältnis zwischen den Abteilungen um. Marx jedoch ging es um eine stoffliche und wertmäßige Abhängigkeit beider Abteilungen, um das Austauschverhältnis, in welchem keiner der beiden Abteilungen eine privilegierte Rolle einnimmt. Engels hatte mit seiner Entscheidung, dem Manuskript VIII zu folgen, Luxemburgs Interpretation zumindest Vorschub geleistet. Es ließe sich die Frage diskutieren, ob Luxemburg ihre Imperialismustheorie überhaupt derart ausformuliert hätte, wenn sie die Originalmanuskripte genauer gekannt hätte.

Einig waren sich die TeilnehmerInnen am Ende des Wochenendes jedenfalls darin, dass der zweite Band zu unrecht als der langweiligste aller drei Bände gilt und im Gegenteil wichtige Einsichten in die Funktionsweise der Reproduktion des Kapitals und seiner Krisenmomente verleiht.

In 2010 soll mit der Marx-Herbstschule der dritte Band in den Mittelpunkt der Lektüre und Diskussion rücken. Er ist abermals für das Thema Krise und Kapitalismus von großer analytischer Relevanz, da Marx hier Kredit, fiktives Kapital und Krise verhandelt. Welches Podium am Samstagabend geboten wird, ist noch offen. Aber die Party steht schon fest.

(Nuss, Sabine/ Stützle, Ingo (2010): Party mit Marx. 2. Marx-Herbstschule in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 20. – 22. November, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 81, 21. Jahrgang, März 2010, S. 165- 168)

Antonio Negri:
“Ein Gespenst kehrt zurück –
Der Bruch mit dem traditionellen Marxismus in Italien und Frankreich”

Die Abendveranstaltung mit Antonio Negri gelang in Kooperation mit der Volksbühne. (Dokumentation)