Anarchistische Staatstheorie
Wenn Marx als Radikaldemokrat dargestellt wird, kann zugleich die Frage aufgeworfen werden, ob es ein emanzipatorisches Jenseits der radikalen Demokratie geben kann. Mit der ihm wesentlichen Skepsis und Kritik der Politik, begibt sich die Strömung des Anarchismus auf eine Suche danach.
Dabei zeigt sich, dass sich die grundlegenden Analysen im marxistischen und anarchistischen Denken stark ähneln. Die Schlussfolgerungen, die aus ihnen gezogen werden, unterscheiden sich hingegen hinsichtlich der Grundannahmen über Politik, Staat, Subjekte, Geschichte, Transformation und Zielvorstellungen.
Die anarchistische Staatstheorie ist wie jene von Marx aus dem Kontext und durch das Zusammentragen verschiedener Positionen dazu zu rekonstruieren. Mit ihr wird Staatlichkeit als Herrschaftsverhältnis begriffen, durch welches politische Macht monopolisiert, zentralisiert, autoritativ gesetzt und hierarchisch strukturiert wird. Den modernen Staat mit demokratischen Elementen kennzeichnet das Gewaltmonopol, die Bürokratie, die Nation und seine Ideologie. In dem in ihm Legislative, Exekutive, Judikative aufgeteilt werden, Parteien institutionalisiert, Rechte für Bürger*innen vergeben und Partizipation ermöglicht werden, perfektionierte sich die politische Herrschaft. Doch am Ausgangspunkt und im Inneren des Staates steht mit dem Konzept der Souveränität ein klarer Herrschaftsanspruch, der letztendlich nicht begründet werden kann.
Dieser Sicht nach ist der Staat nicht lediglich ein verwaltender „Ausschuss der Bourgeoisie“ und leitet sich seine spezifisch-historische Form nicht primär aus den ökonomischen Verhältnissen ab. Die Konzeption einer „relativen Autonomie“ kommt dem anarchistischen Verständnis nach schon näher. Darüber hinaus ist im Anarchismus zum einen die Institutionen-Kritik und andererseits die ethischen Kritik am Herrschaftscharakter des Staates stärker ausgeprägt. Der Fluchtpunkt einer Auflösung des Staates bleibt im Rahmen des Marxismus ein hypothetisches Ideal. Anarchist*innen streben hingegen an, die Staatsmacht auf direkte Weise zu begrenzen, zu konfrontieren und Autonomie von Staatlichkeit zu gewinnen.
Insofern Staatlichkeit ihre Form, ihren Charakter und ihre Ausdehnung auch heute permanent verändert, mag das anarchistische Staatsverständnis zu ihrer Analyse produktiv beitragen. Vor allem aber stellt der Anarchismus Organisationsansätze, eine Ethik und Ideologie von Aktiven aus emanzipatorischen sozialen Bewegungen dar, woraus die anarchistische Theorie entwickelt wird.
Mit: Jonathan Eibisch
Moderation: Birgit Ziener